Sonntag, 11. März 2007

Warum Kuba ins Reich der Freiheit gehört

Der Karibikstaat ist anlässlich der Erkrankung seines Staatschefs Fidel Castro in die Schlagzeilen geraten. In den Redaktionsstuben der freien Presse interessieren sich Korrespondenten vor allem für die Frage: wie lange noch hält sich der dienstälteste Staatsmann Lateinamerikas? Im Sommer 2006, als Castro am Darm operiert wurde, überboten sich Beobachter täglich mit neuen Prognosen über dessen baldiges Ende. Anfang des Jahres 2007 ist die Stimmung nicht mehr ganz so hoffnungsvoll: bedauernd nimmt die Öffentlichkeit die Gesundung des 80-jährigen Revolutionärs zur Kenntnis. Ein Ende der kommunistischen Ära auf Kuba ist nicht in Sicht. Weder Volk noch Partei scheinen sich vom „Commandante en Jefe“ abwenden und den Beschwörungen westlicher Experten Glauben schenken zu wollen:

  • Die „rote Insel“ ist ein Anachronismus; eine der letzten Bastionen des weltweit untergegangenen Kommunismus;

  • Castro der Staatschef eines längst zum Scheitern verurteilten Systems; ein ewiggestriger Revolutionär, dogmatischen Ideen verhaftet, unbeweglich und stur; der nicht einmal nach dem kompletten Wegfall der sozialistischen Bruderhilfe durch die freiwillige Abdankung des „Realen Sozialismus“ sich von den Vorzügen freien Unternehmertums überzeugen lässt;

  • der entgegen seinen ersten Versprechungen vor nunmehr fast einem halben Jahrhundert seinem Land Parlament und demokratische Wahlen vorenthält;
    der letztlich jedem Versuch, seine Ökonomie endlich dem freien Kapitalverkehr zu öffnen, in diktatorischer Manier eine Absage erteilt;

  • der sich dem Grundrecht auf Privateigentum mit offener Feindschaft widersetzt;

  • der bis auf den heutigen Tag allen Reformen Richtung Demokratie und Marktwirtschaft und jedem Drängen nach Wandel mit starrsinniger Ablehnung begegnet.
Das alles spricht erst einmal nicht gegen Fidel Castro. Es gibt vielmehr Anlass zur Frage, warum eigentlich die Kritiker aus dem Reich der Freiheit so vehement die Abkehr des kleinen Inselstaats vom Sozialismus und dessen Hinwendung zu freedom & democracy fordern.

Ein nüchterner Blick auf die kapitalistischen Länder nicht nur Lateinamerikas reichte völlig, von diesem Ansinnen Abstand zu nehmen. Wäre die so menschenfreundlich unterstellte Frage nach Wohlstand, Bildung und Gesundheit der arbeitenden Massen ernst gemeint, dann müsste die Warnung unvoreingenommener Korrespondenten aus Rio, Berlin und Peking lauten: „Vorsicht - Der Kapitalismus fügt Ihnen und Ihrer Umwelt erheblichen Schaden zu!“ Dass große Volksteile der auf Marktwirtschaft setzenden Staaten in Armut und Elend leben, hindert diese Humanisten jedoch nicht daran, dem kubanischen Volk den Weg in eben jene Freiheit von Lohnarbeit und Kapital zu empfehlen.

Warum eigentlich sprechen Hunger und Analphabetentum, Obdachlosigkeit und Kriminalität- immerhin Erscheinungen, denen Castro in seinem Land den Boden entzogen hat, dafür aber in allen kapitalistischen Nationen normaler Alltag sind - nicht gegen Demokratie & Marktwirtschaft? Warum ist umgekehrt ein rostender Traktor auf einer kubanischen Zuckerrohrplantage ein Beweis dafür, dass Kommunismus nicht geht? Warum ist das millionenfache Elend in den lateinamerikanischen Demokratien kein Argument gegen das Privateigentum und seine politische Herrschaft? Warum ist hingegen eine bröckelnde Häuserfassade in Havanna ein Sinnbild für die Untauglichkeit des Sozialismus? Warum verursachen die Favelas von Sao Paulo bis Madrid keinen Aufschrei gegen den demokratischen Kapitalismus? Wie gelingt dem geschulten Blick des Demokraten die stets zielsichere Sortierung einerseits in die Deutung „Ein Fehler im System“ und andererseits „Das System ist der Fehler“?

Von den kapitalistischen Wachstumsraten der chinesischen Ökonomie ist das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ derart beeindruckt, dass es auf seiner Titelseite provozierend fragt: „Funktioniert der Kommunismus doch?“ Nicht dass die „Kehrseiten“ des Booms verschwiegen würden, im Gegenteil: Der neidvolle Respekt vor dem Aufstieg Rot-Chinas ist begleitet von lauter Berichten über die anfallenden Opfer des „Wirtschaftswunders“. Leute, denen hierzulande am Hartz’schen Programm der Volksverarmung immer nur stört, dass es noch nicht genug „Reformen“ auf den Weg gebracht hat, entdecken im Reich der Mitte auf einmal Ausbeutung und Umweltzerstörung. Warum wollen sie dies aber nicht als Argument gegen das System „Kapitalismus“ verstanden wissen? Und was macht sie so sicher, dass dies auch niemand tut, obwohl im eigenen Land haargenau der gleiche Anspruch des Gewinne-Machens das Volk und seine Gesundheit als zu teuren Kostenfaktor behandelt?

Die Parteilichkeit im Denken ist offensichtlich. Und ihre eigene Logik zeigt: die Parteinahme für das freiheitlich-demokratische System ist offenbar ohne Gemeinheit nicht zu haben. Doch wieso ist diesen Denkern keine Hetze zu billig, keine Häme zu gemein? Warum werden Apologeten der Freiheit an ihrer Heuchelei nicht irre? So unerschütterlich wie ihr Vorurteil scheint dessen Fundament zu sein: der Kapitalismus hat Erfolg! Ohne Zweifel. Seine Maßstäbe gelten. Es gibt global keine Alternative zu den Prinzipien seiner Herrschaft. Geschweige denn einen nennenswerten Widerstand. Das halten Demokraten allen Ernstes für ein Argument. Es ist ihr ganzes Argument. Und nach dem schmählichen Ende des realen Sozialismus sehen es auch die kritischen Geister der Nation freiwillig ein: Das System des Westens ist doch unschlagbar – ökonomisch überlegen, freiheitsmäßig überhaupt einzigartig, im Großen und Ganzen friedfertig; kritikabel höchstens darin, dass es noch nicht genug für die weltweite Durchsetzung so vorbildlicher Verhältnisse tut.
Eine kleine Voraussetzung schließt dieses Kompliment an den real existierenden Weltkapitalismus freilich schon ein; sie betrifft den Standpunkt der Begutachtung. Ihre Vorzüge zeigt die mustergültige westliche Gesellschaftsordnung nämlich nur dann so richtig, wenn man gar keine anderen Interessen kennt als diejenigen, die darin die bestimmenden sind; wenn man sich gar keine anderen Probleme macht als diejenigen, die dort entstehen und vom Staat, der keineswegs zufällig ein Gewaltwaltapparat ist, betreut werden; wenn man gar keine anderen Erfolgsgesichtspunkte gelten lässt als diejenigen, die in der Welt des Geschäfts und der staatlichen Gewalt eben herrschen; wenn man also, umgekehrt, für die Massen auf dem Globus gar keinen anderen Beruf in Betracht zieht als denjenigen, die nützliche Manövriermasse der Weltwirtschaft und der für ihr Funktionieren zuständigen Gewalten – oder aber zuviel zu sein. Einen Reichtum produzieren, von dem eine kleine radikale Minderheit enorm viel hat; die große Mehrheit der Leute unter Lebensverhältnisse setzen, in denen sie den Dienst am Eigentum anderer als ihre einzige Lebenschance be- und ergreifen und sich noch darum schlagen, benutzt zu werden: Das kann der demokratische Kapitalismus wirklich erstklassig. Und er kann noch mehr: Intellektuelle ernähren, die sein Funktionieren zur vergleichsweise optimalen „Lösung“ zahlreicher – ökonomischer, ordnungspolitischer, sittlicher und anderer – „Menschheitsprobleme“ verklären. Diese methodische Parteilichkeit beiseite gelassen, fällt einiger Glanz ab vom siegreichen System der Freiheit. Dann erweist sich die Freiheit selbst als fadenscheinige Errungenschaft, weil sie tatsächlich eine Technik der Herrschaft und auf der anderen Seite das billige Selbstbewusstsein der Beherrschten ist. Die demokratische Regierungsart zieht nicht schon deshalb Komplimente auf sich, weil manche Diktatoren brutaler verfahren – etwa so, wie Demokratien es sich für Notstandszeiten vorbehalten. Vom Marktgeschehen gibt es nicht so sehr glanzvolle Versorgungsleistungen zu melden, eher den Zweck der ganzen Sache: das Geld und seine Vermehrung, sowie einige Härten, das Geldverdienen durch Arbeit betreffend. Sogar der Frieden, den die verantwortlichen Weltmächte hüten, sieht weniger idyllisch aus, mehr nach zwischenstaatlichen Gewalt- und Erpressungsverhältnissen, die – ausnehmend demokratisch! – die Völker für ihren Staat auszubaden haben. Und vom weiten Feld origineller Weltanschauungen bleibt nicht viel mehr als eine Masse ebenso wohlmeinender wie verfälschender Umdeutungen des Weltgeschehens übrig, deren Dummheit nicht selten die Schmerzgrenze erreicht.

Bleibt noch die Frage, warum die USA bis heute derart unnachgiebig die Existenz des kubanischen Eilands bekämpfen. Invasion, Attentate, wirtschaftliche Erpressung bis zum Embargo, sogar eine zum Weltkrieg entschlossene Mobilmachung zur Beendigung der „Kuba-Krise“ – die US-Regierung lässt keine Zweifel an ihrer kompromisslosen Feindschaft gegenüber der kubanische Revolution aufkommen.

Seit eh und je behandeln die USA Lateinamerika als ihren „Hinterhof“: als ihre Interessenssphäre und Zone ihres exklusiven Einflusses, die komplett den ökonomischen, politischen und strategischen Interessen der imperialistischen Hauptmacht untersteht. Dass die Souveränität der dortigen Staaten gegenüber den übermächtigen Ansprüchen der kapitalistischen Vormacht und der Wucht ihrer Machtmittel nichts zählt; dass die vollständige Abhängigkeit dieser Länder vom Interesse der USA an ihrer Benutzung auch ganz ohne Kolonialregime das selbstverständliche Recht des überlegenen amerikanischen Imperialismus darstellt, beweist Washingtons Lateinamerikapolitik eindrucksvoll. Bedarfsweise unterstreicht sie diesen Anspruch mit einer ganzen Reihe politisch-staatsrechtlicher Doktrinen, die das im Westen bestens bekannte „Unrecht“ der Breschnew-Doktrin bei weitem in den Schatten stellen.

Der 1823 unter der antikolonialen Losung „Amerika den Amerikanern“ verkündeten Monroe-Doktrin folgen neun weitere, die mit der wachsenden Dollar-Herrschaft in Lateinamerika die Souveränität der dortigen Nationen als eine rein formelle Angelegenheit behandeln und mitunter hochoffiziell für nichtig erklären. Die Liste der Interventionen zum Schutz amerikanischer Interessen ist lang. Zur Wiederherstellung der Marionetten-Regimes nimmt sich die US-Regierung in der Wahl ihrer Mittel die Freiheit, auf Unbotmäßigkeiten in ihrem Hinterhof je nach Lage mit dem big stick oder dem einen oder anderen Geheimdienstmanöver zu reagieren. Ökonomisch sind die Verhältnisse in der Dollar-Hemisphäre von Beginn an entschieden: Die Basis allen Wirtschaftens, Gewinne-Machens und Spekulierens ist die US-Währung. Zunehmende Verschuldung der Latino-Haushalte und vermehrter Reichtum des US-Kapitals gehen Hand in Hand. Ein ganzer Subkontinent funktioniert, deren Völker subsistieren überhaupt nur in dem Maße, wie dadurch unmittelbar Dollar-Kapitalisten reicher werden. Die auf die Rolle der sprichwörtlichen „Bananenstaaten“ zugerichteten Nationen Mittel- und Südamerikas gewahren daran ihre Rolle im Hinterhof der USA: nämlich als Objekt der US-amerikanischen Staatsraison, die jede wirkliche wie vorgeschobene Störung der einseitig-nützlichen Wirtschaftsbeziehungen zum südlichen Nachbarn als eine Verletzung ihrer Souveränität betrachtet.

Diesen maßlosen Anspruch bekommt das zwar harmlose, aber eben abtrünnige Inselvölkchen in der Karibik zu spüren. Über 40 Jahre lang haben die USA mit einem bewaffneten Angriff und mit fortwährender Subversion, mit Boykott und Terror alles dafür getan, dass Kubas alternativer Entwicklungsversuch scheitert und zu Guns­ten von Dollarisierung und Unterordnung unter den kapitalistischen Weltmarkt aufgegeben wird. Sie wollen aber mehr: Sie stellen klar, dass sie mit ihrer überlegenen Macht jeden Anschein einer kubanischen Alternative zur Unterwerfung unter ihr Weltordnungsregime zu einem historischen Irrtum zu machen gewillt sind, also erst dann zufrieden sind, wenn Kuba sich wieder voll der Kontrolle der USA unterstellt. Der Anspruch der westlichen Führungsmacht, für nichts Geringeres als die Weltordnung zuständig zu sein, erfüllt dabei notwendig den Tatbestand des Totalitarismus. Zu Zeiten des Kalten Krieges schrieb sich die Weltmacht Nr.1 noch den Titel „Freiheit statt Sozialismus“ auf die Fahnen, nach Nine Eleven definiert sie ihren Weltmachtsanspruch mit einem globalen Antiterrorkrieg.
Nach der freiwilligen Abdankung der Sowjetunion und vor dem 11. September bestand das Verbrechen Havannas „bloß“ in seiner widerspenstigen Selbstbehauptung. Im Zeitalter der US-amerikanischen Schurkenstaat-Logik lautet das Verdikt: ein Staat, der die Fähigkeit zu einer anti-amerikanischen Tat hat, kann sie aufgrund des ihm zugesprochenen bösen Willens auch zur Wirklichkeit werden lassen. Er ist damit in die „Achse des Bösen“ eingereiht. Dagegen hilft nur Prävention. Belege für die behauptete Gefahr lassen sich finden:
“Seit vier Jahrzehnten hat Kuba eine hoch entwickelte bio-medizinische Industrie aufgebaut, die bis 1990 von der Sowjetunion unterstützt wurde. Diese Industrie ist eine der fortgeschrittensten in ganz Lateinamerika, sie ist führend in der Produktion von Pharmazeutika und Impfstoffen, die weltweit verkauft werden ...Aber Analysten und kubanische Flüchtlinge haben seit langem Verdacht geschöpft und die Aktivitäten in den biomedizinischen Unternehmen in Frage gestellt ...Kuba verfügt über mindestens ein Programm zur Entwicklung offensiver biologischer Waffen”
(John Bolton, US-Staatssekretär im US-Außenministerium, 2002 vor der Heritage Foundation).

Auf die Entscheidung, wann und wie die USA ob der so definierten Gefahr ihren Handlungsbedarf exekutieren, hat Havanna nicht den geringsten Einfluss. Solange die kubanische KP nicht freiwillig kapituliert, macht sie sowieso alles verkehrt.